Jedes Jahr zur Adventszeit freue ich mich aufs Neue, wenn über der Nidaugasse, dem pulsierenden Herzen des Städtchens Biel, die Lichterketten angebracht werden. Die Flanier- und Einkaufsmeile erstrahlt in deren Licht besonders schön und hat einen eigenen, sehr femininen Zauber inne. Die Anordnung der Leuchtmittel erinnert an einen Uterus mit Eileitern links und rechts sowie den beiden Eierstöcken, dargestellt als Spiralen.
Ich bin keine Fachfrau der Kunstwissenschaft, erkenne aber einen Uterus, wenn ich einen sehe. Tatsächlich zähle ich sogar 18 Uteri, verteilt über der gesamten Gasse. Auch wenn diese nur der schlichten Dekoration dienen sollten, wirken sie bei eingehender Betrachtung sehr beflügelnd.
4662 Lämpchen
Mein Kunstlehrer pflegte zu sagen: «Kunst ist der Ausdruck der Geistigkeit des Kunstschaffenden und Betrachters. Menschlicher Geist äussert sich darin, dass er den Dingen auf den Grund gehen will. Er sucht das Wahre, die Wahrheit, das Wesen der Dinge.»Das Wesen auf dem Grund des Uterus kenne ich aus dem Biologieunterricht. Meine Schwägerinnen in spe haben zwei davon unter Schmerzen ins Leben gepresst und mich jüngst zur doppelten Tante gekürt. Plötzlich aufkeimende Gedanken, an lebhaft blutige Geburtsszenerien eines Kreissaals, überbrückt mein Gehirn mit Glühbirnen zählen.
1, 2, 3, …259 Lämpchen pro Uterus ergibt mal 18 Uteri 4662 Lämpchen.
Zum Glück blinken die Dinger nicht, sonst läge ich mittlerweile spastisch zuckend auf der Gasse.
Gott hat die Finger im Spiel
Je länger sich mein Blick in der hellen Weiblichkeit der Beleuchtung suhlt, überwiegt die Erkenntnis, dass es sich hierbei um Kunst handeln muss. Vielleicht sollen die schwebenden Uteri der Nidaugasse an die Geburt Jesus Christus durch die Mutter Maria und deren Entschlüpfung aus Annas Uterus, welche wiederum aus Emerentia geflutscht ist, erinnern. Zurückreichend bis zum Uterus aller Uteri, quasi dem U(r)terus von Eva, die aus der Rippe… Rippe?… Jedenfalls, so der verbreitete Christenglaube, hatte Gott die Finger in der Entstehungsgeschichte.
Seid fruchtbar und mehret euch
Ich bin weder religiös noch gläubig. Zwar wurde ich getauft und feiere Weihnachten aber dem Dogma der unbefleckten Empfängnis Marias und dem unterdrückenden Frauenbild des Christentums kann ich nichts abgewinnen. Ich betrachte die Installation sinnbildlich für reale Frauen, Vorbilder wie Margaret Hamilton, die Mutter des Computercodes, der die Mondlandung erst möglich machte oder Nobelpreisträgerin Marie Curie, deren Uterus nachweislich gestrahlt hat. Oder deine Mama, die im Minimum einmal Sex gehabt haben muss, um dich zu gebären.
Jugendkrawalle 1968
Erstmals durften sich die Bielerinnen und Bieler im Dezember 1968 über die funkelnden Lichter freuen. Leider konnte ich nicht in Erfahrung bringen, wer den Entwurf für die bedeutungsschwangere Weihnachtsbeleuchtung gestaltet hat. Der Gedanke, dass es sich möglicherweise um eine Aktivistin gehandelt haben könnte, die sich im Juni selben Jahres eine stundenlange Strassenschlacht mit der Zürcher Polizei geliefert hat, inspiriert mich allerdings. Immerhin gilt das als «Globuskrawall» in die Annalen eingegangene Ereignis gemeinhin als Schlüsselmoment von 1968 in der Schweiz. Vielleicht wollte sie für folgende Generationen ein Zeichen setzen, uns weiterhin für die Gleichstellung von Geschlechtsidentitäten einzusetzen. Wer weiss?

Huldigung der Weiblichkeit
Selbst, wenn sich meine Gedankengänge als komplett falsch erweisen würden, bewunderte ich die Bieler Weihnachtsbeleuchtung weiterhin. Diese liebevoll erhaltene und gepflegte Handarbeit, hat auch mit 52 Jahren nichts an Symbolkraft und Schönheit eingebüsst.
Schwebende Uteri als Huldigung der Weiblichkeit, Biel feiert sie wie keine andere Stadt.
In dem Sinne wünsche ich euch allen frohe und besinnliche Festtage, geniesst das Fest der Liebe.